Text von Emily Grawitter
Ein Gruppenexperiment mit Jan Munske, Lina Unger und Hannah Röbisch
Der Name „Klageweiber“, so extrem er auch klingen mag, lief mir erst vor einem Monat über den Weg. Gemeint sind damit Frauen, die auf Trauerfeiern und Bestattungen gegen Bezahlung die Toten beklagen, besingen; ja sogar beschreien. Das Klagen von Klageweibern lässt sich zurückverfolgen bis ins alte Ägypten (3000 v. Chr. bis 395 n. Chr. ) und Babylonien (1800 v. chr. bis 1595 v. Chr.) (vgl. Stubbe, Hannes: Formen der Trauer, Berlin, Dietrich Reimer Verlag Berlin, 1985). Damals war es üblich, dass Scharen von klagenden Menschen, hauptsächlich Frauen, an Trauerzügen teilnahmen (auch Männer gab es sicher, Aufzeichnungen belegen dies aber nicht). Dabei wurde lauthals nach außen geklagt, in aller Öffentlichkeit, ohne Scham und ohne Hemmungen. Heute gibt es noch vereinzelt in sizilianischen Bergdörfern oder kleinen Orten in Rumänien die Kultur der Klageweiber, jedoch sinkt die Nachfrage und auch der Beruf ist nicht mehr verbreitet.
Eine Frage, die sich mir mit der Auseinandersetzung allerdings am häufigsten stellte, war: Weshalb um eine fremde Person klagen? Warum sich immer wieder mit Trauer konfrontieren und immer wieder Angehörigen beim Leiden zusehen? Innerhalb unserer Projektgruppe beschlossen wir also, ein Experiment zu machen und dem nachzugehen. Wir besuchten die Trauerfeier einer fremden Person. Ohne persönliche Informationen zu kennen, aber natürlich mit der Absicherung, dass es eine öffentliche Trauerfeier wäre, die es uns gestattet teilzunehmen. Wichtig war uns dabei, die Teilnehmenden weder zu stören, noch in die Trauerfeier einzugreifen oder auf uns aufmerksam zu machen, denn Fremde auf einer Trauerfeier kommen nicht so oft vor.
Wir wussten nicht, was uns erwartet, stellten uns aber auf einen bedrückenden Tag ein. In einer kalten Kirche sitzend, schwarz gekleidet, traurige Lieder singend und Menschen leidend sehen. In einer kalten Kirche saßen wir zwar wirklich, doch das (in unserem Fall) stille Beklagen einer fremden Person fühlte sich nicht so bedrückend an, wie wir dachten. Als „rührend“ würde ich es eher bezeichnen. Wir hörten der Predigt zu, der Lebensgeschichte eines Menschen, den wir niemals gekannt haben und ich selbst ertappte mich beim Schmunzeln, als ein selbstkomponiertes lustiges Lied der verstorbenen Person abgespielt wurde. Und auch beim Liedersingen entwickelte sich mein unsicheres Mitmurmeln zu einem normal lauten Gesang, der mit dem aller Anderen mitschwang.
Erst als ich beim letzten Lied und dem damit verbundenen „Totenzug“ hinausging und einen Blick auf die trauernden Angehörigen erhaschte, bekam ich einen Kloß im Hals. Ich konnte leises Schluchzen hören und sehen, wie sich Menschen in den Armen hielten. Andere gingen mit gesenktem Kopf, eine Scham des Weinens? Der Zug entfernte sich und wir verließen die Kirche, weg von der trauernden Menschengruppe, nachdenklich.
Etwas hatte sich verändert. Ich glaube es war gut, dort gewesen zu sein. Im Gegensatz zu Klageweibern zwar eine stille Anteilnahme, aber trotzdem: Anteilnahme. Wir waren da und haben uns von einem Menschen verabschiedet und ihn be“weint“. Selbst könnte ich das wohl nicht regelmässig machen. Aber ich habe das Gefühl, nun etwas mehr zu verstehen, worum es beim Klagen um eine mir unbekannte Person geht.
Quellen:
Stubbe, Hannes: Formen der Trauer, Berlin, Dietrich Reimer Verlag Berlin, 1985
Barbu, Mircea: Der Tod ist ihr Hobby: Die Frauen, die auf fremden Beerdigungen weinen, 03.09.2019, https://www.vice.com/de/article/bjqbxq/der-tod-ist-ihr-hobby-die-frauen-die-auf-fremden-beerdigungen-weinen
NewFinance Redaktion: Die Tradition lebt: Die letzten Klageweiber in Rumänien, 08.04.2021, https://magazin.dela.de/die-tradition-lebt-die-letzten-klageweiber-in-rumaenien/
Hucal, Sarah: Professionelles Trauern – ein altes Ritual in Griechenland, 15.11.2020, https://www.dw.com/de/volkstrauertag-frauen-trauern-griechenland-klageweiber-moirologie/a-55590388
EmmaLife: Totenkulte | Ägypten: Klageweiber und muslimische Trauerrituale, 28.07.2021, https://blog.emmalife.ch/totenkulte-aegypten-klageweiber-und-muslimische-trauerrituale