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Sensibilität und Sinn – Tränen als Ausweg

Erklärung zum Hörspiel

“sense” (25.01.2023)
Hörspiel von Lena Kittler, “kitte” oder “loon”

Warum weine ich, wenn ich über eine Straße gehen muss, so wie ich weine, wenn ich im Bus sitze und ich weine, weil jemand nicht gesprächig ist? Warum weine ich scheinbar grundlos? Zu oft bin ich dramatisch, zu schnell gebe ich einem Zustand nach, der mich “wahnsinnig” macht.

Ich habe mich nie näher mit dem Wort „Sensibilität“ beschäftigt. Ich wollte nicht genauer wissen, welchen Stellenwert Sensibilität in meinem Leben einnimmt. Oder ich war der Meinung, es bedarf keiner Worte, um etwas zu erklären, dass offensichtlich seit meiner Geburt Teil von mir ist und damit bekannt. Die Intensität meiner Gefühle war, besonders in jungen Jahren, eine Information, die mehr als Bild oder Person manifestiert in mir existierte, vielleicht eine Gestalt meines Unterbewusstseins. Die Idee, Fragen dazu zu stellen, erschien mir nicht nur unlogisch, sie erschien eigentlich gar nicht. Aber mit den Jahren, die neue Sprache bringen, Phantasien auswechseln und die Spiele meiner Kindheit realistischer machten, Jahre, die den Schutz, der fraglos über Heranwachsende gelegt wird, unbemerkt wegzerren, entstand das „Ding“. Dieses Ding heißt „Ding“, weil ich es nicht begreifen konnte, vielleicht immer noch nicht begriffen habe, aber es scheint in Beziehung mit dieser „Sensibilität“ zu stehen. Vorausgesetzt, es existiert eine Kommunikation zwischen meiner Seele, meinem Geist und meinem Körper – untereinander, übereinander, abwechselnd, alle miteinander. So bin ich als Veranstaltungsort dieser Gespräche nur selten in der Lage, einen Überblick zu behalten. Es wird vor allem dann schwierig aufzupassen, was die Allgemeinheit befindet, wenn ein einziger Gesprächsteil extrem laut wird und viel spricht, es entsteht dieses Ding, es ist wie Unsinn. An dieser Stelle kommt für mich Sensibilität ins Spiel, gleichzeitig möchte ich am Wort „Sinn“ festhalten, erstaunlicherweise lassen sich beide im englischen Wort „sense“ sehr gut zusammenfassen, weshalb ich mich entschied, mein Hörspiel danach zu benennen. Mir fällt es nicht leicht, meine Bezüge darzustellen, was in sich schon ein Symptom des Sachverhalts ist, dennoch werde ich versuchen, Klarheit bei der Darlegung meines Standpunkts zu bewahren.

Eine Angststörung begleitet mich schon jahrelang in meinem Alltag und ist der Grund, weshalb ich mich zum zweiten Mal in psychotherapeutischer Behandlung befinde. Ein Meilenstein beim Erlernen eines Umgangs mit dieser war es, zu erkennen, dass ich in einem Großteil meiner Zeit unter erheblicher Anspannung stehe, die sich wesentlich auf mein Wohlergehen auswirkt. Was mir dabei häufig genommen wird, ist: Sinn – sowohl in der Aussage von Logik, als auch in der Bedeutung von Sinn als Werk meiner Sinnesorgane. Wenn ich mich auf die zuvor erwähnte interne Kommunikation beziehe, ließe sich schließen, dass irgendwo ein Missverständnis entstünde und die Ursache der Angststörung bestärke. Während meiner Behandlung gelang und gelingt es mir zuweilen immer noch, Gründe für diesen Zustand besser zu verstehen. Dafür war es bedeutend, mir eingehend zuzusehen. Nicht allein mein Verhalten, meine Tätigkeiten, meine Reaktionen sollte ich ausmachen – kennenzulernen war dabei auch die generelle Empfindlichkeit für physische und psychische Reize, auch genannt „Sensibilität“. Hierbei ergab sich die Auffälligkeit, dass ich Veränderungen des Inneren und Äußeren nicht nur sehr direkt bemerke. Ich schätze fast unwesentliche Erregungen, die vom Umfeld oder eigens ausgelöst werden, als extrem intensiv, gegebenenfalls unangenehm ein – dabei entsteht die Anspannung, unter dieser es mir schwer fällt, Ruhe zu bewahren, klare Gedanken zu fassen und ich behaupte, dass ich da keinen Einzelfall darstelle. Problematisch ist allerdings die Häufigkeit, mit der ich in diese gerate und das Resultat gleicht einem Strudel: Ein unbeachtlicher Reiz sorgt für ein scheinbar unerträgliches Lebensgefühl, daraus schließe ich gedanklich den Umstand, etwas stimme ganz und gar nicht, meine Physis gerät, angetrieben durch meine Angststörung, in tatsächliche Panik. Das vorerst Unwesentliche begreife ich nun als starkes Leid mit Handlungsbedarf, leider fehlt mir zu diesem Zeitpunkt jegliche Fähigkeit, rationale Entscheidungen zu treffen – ein Beweis für meine Ausweglosigkeit und der Beginn eines weiteren Kreislaufs. Alle Argumente für Entlastung, sogar Hilfsangebote meiner Mitmenschen, sind in solchen Momenten hinfällig, meiner Ansicht nach, weil meine Sinne und auch mein Sinn verschlossen wurde durch die Intensität meiner Gefühlsregungen. Ein Ende dieser misslichen Umstände findet sich aber trotz jeder Steigerung immer wieder und mit diesem möchte ich auf den Einfluss vom Weinen überleiten.

Schnell spreche ich mir Unfähigkeit zu, mit meiner Emotionalität auskommen zu können. Noch schneller verteufle ich sie dafür, mein Da-Sein ohne jede Vorsicht in Schwierigkeiten bringen zu können. Aber es gibt ein Vermögen an dieser Seite von mir – wenn ich zulassen kann, das Tränen fließen. Denn bevor mein Durcheinander zu ausgedehnt über mir liegt, geben sie mir die Freiheit, nicht nachdenken zu müssen, nicht wissen, nicht entscheiden, aber ich kann doch etwas ausrichten. Über „Katharsis“ haben schon einige Münder philosophiert und dennoch glaube ich, dass die Resonanz im Dialog darüber nur selten gleich ist. „Läuterung, Reinigung, Klärung“ – wie ein Mensch Katharsis übersetzt, ist wohl jedem überlassen und bezieht sich auf die Sache, in der sie erfahren wird. Ich möchte für mich das Synonym „Aussprache“ verwenden, denn es verhält sich doch so, dass ich im Augenblick völliger Überforderung die Chance habe, ohne Worte zu benutzen, mich mitteilen zu können. Wenn ich einfach nicht weiß, wieso die Lautstärke einer Straße zum Beispiel mich daran hindert, sie zu überqueren, und auch nicht weiß, wie ich das mir selbst oder anderen begründen soll, blieb mir schon manchmal nichts übrig, als zu bleiben, wo ich bin und dem Ausdruck zu verleihen, dass ich mich verletzt fühle. Die erste gute Tat daran ist, dass ich mich für wichtig erachtet habe und nichts erzwinge, wozu ich momentan nicht bereit wäre, denn das löst Krämpfe und Stress aus und wirft mich zurück an einen Punkt, wo nur Vorwürfe Platz haben. Das zweite und fast bessere Ergebnis meiner Heulerei ist, dass die Erfahrung des Abklingens, der gelinderten Symptome bleibt. Im Dialog zwischen Körper, Geist und Seele wird vermerkt, dass auch die Panikattacke wegen einer lärmenden Straße wieder verschwindet und im Allgemeinen gerate ich immer weniger in Anspannung. Nach und nach wird mir klar, dass mein Weinen, wie die Verteidiger eines Immunsystems, den Unsinn zwar nicht von mir für immer fern hält, aber die Ansteckung und einen Ausbruch mit schwerem Verlauf unwahrscheinlicher machen kann.

Sensibilität ist meiner Einsicht nach ausschlaggebend für die Verhaltensweisen jedes Menschen – was wir um uns herum bemerken, wie wir über uns sprechen, wann wir beschließen, weiter zu machen, wieso wir bleiben und stehen bleiben und mehr. Wiederkehrend stoßen wir dabei an unsere Grenzen, finden uns in Unmut wieder, weil wir nicht zu wissen vermögen, wo es uns hinführt. Dennoch ist nicht zu vergessen, das „nichts fühlen“ eine Option ohne viel Perspektive ist. Es ist doch unglaublich, zu spüren …