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Crying als Ritual, als Zeremonie

existing crying material: professionelles Klagen in Neapel

Als ich von 2012 bis 2013 in Neapel gewohnt habe, ist in einer der Wohnungen, die an denselben Innenhof grenzten wie mein Zimmer, ein Mensch gestorben. Ich kenne die Umstände nicht, noch habe ich die tote Person gesehen. Jedoch war für drei Tage das Klagen mutmaßlich professionell Klagender zu hören. Das Klagen, das auch Singen umfasste, war rund um die Uhr wahrnehmbar. Die Klagenden wechselten sich ab und ich konnte sehen, wie sie über den Hof kamen und gingen.

Innenhof in der Vico Luperano (google/Maps)

In der Zeit, die ich in Neapel verbrachte, konnte ich immer wieder beobachten, dass die Beziehung zum Tod und die Aussicht zu sterben, den Menschen gegenwärtiger ist. Das hat viele Gründe, die über die Jahrhunderte besprochen wurden. Zum einen liegt die Stadt zwischen dem aktiven Vulkan Vesuv und den Campi Flegrei (Phlegräische Felder), hier wurde schon in der römischen Antike der Eingang zur Unterwelt vermutet.1 Zum anderen ist die Mafia genauso sichtbar wie der Vulkan. Die Porträts ihrer getöteten Mitglieder prangen als Murales auf der Straße und weilen so weiter unter den Lebenden.

Il murales dedicato a Ugo Russo, Napoli. Il Manifesto vom 28.02.2021, https://ilmanifesto.it/a-un-anno-dalluccisione-di-ugo-russo-il-padre-denuncia-ancora-non-ce-lesito-dellautopsia, abgerufen am 19.03.2023.

Das Leben in Neapel ist immer konfrontiert mit dem Tod und die Bewohnerinnen nähern sich den Toten an, statt sie zu fürchten. Über Jahrhunderte haben sich in Neapel/im ganzen Süden Italiens besondere Formen des in der Welt seins, Rituale und Sprachen entwickelt, in Opposition zum hegemonialen und dominanten Norden (Italiens). Elisa Giuliano, eine Kuratorin der Ausstellung Ceremony (Burial of an Undead World) (10-12/22, HKW, Berlin) schreibt in dem gleichnamigen Katalog in ihrem Text Kiss the Dead:

It is what we call „a third space“, one that is perhaps mobile and radically other, but also exist at a distance from the world-systemic order of colonial modernity and capitalism. This typically Neapolitan capacity for distancing and resistance is due to to the indiffe- rence that Neapolitans express toward power.

In der Ausstellung selbst wird in mehreren Stationen die magische Praxis der Neapolitanerinnen beleuchtet. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Pflege von Gebeinen unbekannter Menschen in den Katakomben der Kathedrale Basilica di San Pietro ad Aram. In diesem Ritus kommt die Ignoranz der Neapolitaner*innen gegenüber der Obrigkeit gut zum Ausdruck. Der Mythos sagt, dass die Gebeine von Menschen stammen, deren Seelen nun im Zwischenort Fegefeuer feststecken. Lebende Lebenden, die um diese Gebeine trauern und sie pflegen, können den Aufenthalt der Seelen im Fegefeuer verkürzen. Die Verstorbenen nehmen zu den sie Pflegenden Kontakt über deren Träume auf und teilen Informationen über ihre Identität mit. Die sie Umsorgenden lernen so die vorher anonyme Person kennen und kommunizieren fortan mit ihnen über Träume.

Cimitero delle Fontanelle, Foto: Karoline Schneider.

1969 schloss die katholische Kirche, die Orte, in denen diese Form der Knochenverehrung stattfand, mit der Begründung, dass nur Gebeine von Heiligen diese Aufmerksamkeit erhalten dürfen und das Pflegen von Gebeinen von Seelen im Fegefeuer von Nekrophilie geprägt ist und befremdlich sei. (Vgl. Giuliano 2022, S. 193) Heute wird der Brauch an vier unterirdischen Standorten weitergeführt. Über den Zeitraum des Verbotes hat er in Erzählungen überdauert und sich in Einzelfällen performativ über den Score „Andare a basilare il morto!“ (Geh und küsse die Toten) erhalten, wie Laura, eine Neapolitanerin in Giulianos Text berichtet. (Ebd. S. 192) Die Kombination aus einer widerständigen Geste im Ritual und dem Betrauern von Seelen unbekannter Entitäten, die nicht den Status Heiliger haben, interessiert mich sehr. Der liminale Zustand der Seelen und ihrer Anhänger, die zum Fegefeuer oder zur Marginalität verurteilt sind, sind in der Tat in der Lage, den dominanten Referenten, die Kirche, zu entzaubern. Sylvia Wynter unterstreicht, dass die Kategorie des Liminalen eine bewusste Veränderung bewirken kann, indem sie die Ungerechtigkeit der dominanten /normativen Struktur aufdeckt. Diese gerät, ihrer Autorität beraubt ins Schwanken. Gleichzeitig öffnet der Blick für das Liminale alternative Denkweisen und Handlungsspielräume. (Wynter 2015, S.200 ff.)

Ein weiteres Beispiel aus dem Süden Italiens sind die oben erwähnten, professionell Klagenden (prefica / chiagnazzare / preficha). Sie sind Fachleuten der Totenklage, die angeheuert werden, um bei Beerdigungen zu trauern, indem sie die Klage aller anderen „leiten“. Sie zeigten und zeigen den Trauernden einen Weg in der Trauerkrise.2 Ihre Performance, ihre Gesänge, ihre Lautstärke öffnen einen Raum zum Trauern und selbst klagen. Sie bringen eine Seele in die jeweils vorgestellte andere Welt, oft ohne Umweg über das Fegefeuer. Sie sind Animateurin und Medium und schaffen und halten wie die Pflegerinnen der Seelen im Fegefeuer einen laminalen Raum. Die Klagenden schotten die Trauernden gegenüber der Außenwelt ab, in der sie laut und und sichtbar sind.

Im Institut kam die Frage auf, ob wir über Unbekannte trauern können? Ich habe mich gefragt, ob es so etwas wie Unbekannte gibt? Ich denke an die Arbeiten Water Talk (1967) und We are all Water von Yoko Ono.

you are water
I’m water
we’re all water in different containers
that’s why it’s so easy to meet
someday we’ll evaporate together

but even after the water’s gone
we’ll probably point out to the contai­ners 
and say, “that’s me there, that one.” 
we’re contai­ner minders

(Yoko Ono, Half-A-Wind Show, Lisson Gallery, London, 1967)

Yoko Ono: We are all Water (2006), hier Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main 2013.

Querverweise
1 Bei Vergil (Publius Vergilius Maro) wird in dem Epos Aeneis ein Teil der Campi Flegrei (Avernischer See) als solcher benannt (29-19 v.u.Z.)
2 Die lokalen Bezeichnungen und Hinweise auf das professionelle Klagen als gegenwärtiges Phänomen sind einem Artikel von Concetta Formissana auf visuviiolive.it entnommen, einer neapolitanischen regionalen Internetzeitung.
https://www.vesuviolive.it/cultura-napoletana/313855-ernesto-de-martino-chiagnazzare/ (zuletzt geöffnet am 20.03.2023)

Quellen
Concetta Formissana (2019): Sulle orme di Ernesto De Martino: l’antico mestiere delle “prefiche”, le “chiagnazzare” napoletane. November 2019. https://www.vesuviolive.it/cultura-napoletana/313855-ernesto-de-martino-chiagnazzare/ (zuletzt geöffnet am 20.03.2023)
Ernesto De Martino (1961): La terra del rimorso. Contributo a una storia religiosa del Sud. Mailand: Il Saggiatore
Ernesto De Martino (2000): Morte e pianto rituale nel mondo antico: dal lamento pagano al pianto di Maria. Erstausgabe 1958. Turin: Bollati Boringhieri
Ernesto De Martino (2002): Sud e magia. Erstausgabe 1959. Mailand: Feltrinelli
Sylvia Wynter (1984): The Ceremony Must Be Found: After Humanism. boundary 2, Vol. 12/13, Vol. 12, no. 3 – Vol. 13, no. 1, On Humanism and the University I: The Discourse of Humanism (Spring – Autumn, 1984), S. 19-70
Sylvia Wynther (2015): The Ceremony Found: towards the autopoetic turn/overturn, its autonomy of Human agency and extraterritoriality of (self-)cognition. In Black Knowledges/ Black Struggles: Essays in Critical Epistemology, (Hg.: Jason Ambroise / Sabine Broeck). Liverpool: University Press.
Anselm Franke, Elisa Guiliano (2022): Ceremony — Burial of an undead world. Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung HKW (2022), Leipzig: Spector Books

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