Menschen weinen als Reaktion auf eine Krise, die das eigene Körpersystem verwirrt und zerrüttet. Ein Prozess des Druckablasses und die Suche nach Sicherheit und Halt wird durch den verletzlichen Organismus eingeleitet. Genauer beginnt die fleischliche Oberfläche zu bröckeln, damit die Tränen die zarten emotionalen Samen des Menschen bewässern können. Eine Pflanzen-Menschen-Hybrid-Metaphorik baut sich auf, die nicht von ungefähr kommt. Schließlich scheint das rhetorische Potenzial enorm, das Tränen der Pflanzen im Prozess der Guttation zu erkennen.
Guttation ist ein Notfallmechanismus von Pflanzen, die sich in Lebensräumen aufhalten, wo eine zu starke Luftfeuchtigkeit vorherrscht, sodass es unmöglich ist, zu transpirieren. Somit kann der Vorgang – zum Weinen analog – als Krisenschutzhebel verstanden werden, der statt Wasserdampf Wasser durch die Blattenden absondert. Dieses Wasser perlt in Tropfenform vom Blatt wie die Träne über die Wange. Die Guttation scheint auch seinen Namen von dieser Erscheinung zu haben, da es sich vom französischen „la goutte“, zu Deutsch „der Tropfen“, ableitet.
Das, was in Tropfenform ausgeschieden wird, nennt sich Xylemsaft. Bei diesem handelt es sich um Guttationsflüssigkeit bestehend aus Phytohormonen, die in Wasser gelöst von den Wurzeln über den Spross durch die Hydathoden an den Blättern herausgedrückt werden. Phytohormone werden auch umgangssprachlich „Pflanzenhormone“ genannt und sind wie beim Menschen für die Regulierung der Entwicklung und des Wachstums der Pflanze zuständig. Nennenswerte Beispiel hierfür sind Florigen oder Cytokinin. Bei den Hydathoden handelt es sich um Wasserspalten, über die die Guttationsflüssigkeit durch Wurzeldruck an die Umwelt abgegeben wird, um den Wasserstrom und Mineralienaustausch aufrechtzuerhalten.
Folglich kann die Guttation als Kompensationsstrategie mancher Pflanzen begriffen werden, die mit sich führt, von einem inneren Druck geformte „Tränen“ nach außen zu pressen, wenn die Umgebung eine luftüberfeuchte Krisensituation herbeiführt (anders zu den von außen gebildeten Tautropfen). Neben den physischen Analogien, die zwischen menschlichen und pflanzlichen Tränen möglich sind herzustellen, wie z.B. die Tropfenform oder die Ausscheidung in Wasser gelöster Salze und Mineralien, eignen sich metaphorische Parallelen besser für die eigene
CRYING REFLECTION.
So wie wir schnell Gesichter in bestimmten Strukturen erkennen, äußern wir scheinbar schnell unsere Vermutung, dass das Tropfen eines Wesens oder gar einer Sache an den Prozess des Tränens erinnert. Unsere empathische Fähigkeit motiviert diesen Vergleich, da wir nicht wirklich schätzen, was tatsächlich der Grund für das bildähnliche Tränen von Hundeaugen oder das Harzen von Baumrinde sein soll, sondern unseren eigenen Moment des Weinens darin sehen. Vielleicht gerade, weil wir keine genaue Antwort darauf haben, warum wir manchmal weinen. Dabei kommt der Gedanke auf, dass durch die Guttation eine simple, aber wesentliche Begründung geboten wird. Es geht hierbei um die Aufrechterhaltung des verletzlichen Systems einer zum Überleben getriebenen Lebewesen – ob Pflanze oder Mensch. Gerade im Moment des Zusammenbruchs können Tränen helfen, den Druck aus dem inneren mit dem Druck von außen wieder in Balance zu bringen bis man aufhört, Salzwasser auszustoßen, um nicht auszutrocknen.
Ein Tränenkreislauf wird hergestellt.
Der zyklische Ablass und Aufnahme von Druck soll (scheinbar im Sinne eigener poetischer Ansprüche) als Ventil dienen, das Wasser, wie den Xylemsaft, nicht zu eliminieren, sondern erst als flüssige Tropfen abzugeben, die verdampfen, um folglich ein weiteren Organismus in den Zustand des reinigenden Weinens zu bringen. Wiederum erhöht sich der Wassergehalt in dessen Umgebungsraum. Der Wasserdampf wird absorbiert und kann das Überlaufen des Körpers mit Tränen erneut begünstigen. Tränen werden zu Tränendampf und der Kreislauf wird fortgefahren. Zusammen im selben Raum zu sein, der durch eigenes Weinen luftfeuchter wird, stellt einen eigens bezeichneten „Pumpraum der Katharsis“ dar, in dem sich die Wesen im Mit- oder Gegeneinander anweinen.