Erinnerungen an traumatische Erfahrungen mischen sich mit Momenten von Demut, Freude und Erleichterung in paradoxem Weinen. Der 24fache Druck des Zeugnisses vermittelt einerseits das stetig im Alltag präsente Bewusstsein an das traumatisierende Ereignis, gleichzeitig vermittelt es auch die Unklarheiten traumatischer Erinnerung, sowie die Scham des Erzählens eigenen Erlebens, indem das Erlebte nur fragmentarisch zu lesen ist und Brüche beinhaltet. Die Spuren des Druckers, die einerseits aus einem Fehler im Versatz und anderseits aus Spuren am unteren Rand des Blattes bestehen, verweisen auf die Spuren des Ereignisses – auf all das, was unbekannt, ungesagt und ungezeigt ist.
“The Topography of Tears” von Rose-Lynn Fisher und “Imaginarium of Tears” von Maurice Mikkers.
»The Topography of Tears« zeigt Nahaufnahmen von Tränen verschiedenster Ursprünge, angefangen bei emotionalen Tränen, wie Trauer oder Freude, bis hin zu Reflex-Tränen, wie sie beim Zwiebelschneiden oder dem ungeschützten Blick in die Sonne entstehen. Seit 2008 arbeitete die US-Fotografin und Künstlerin Rose-Lynn Fisher diesem Projekt, das 2017 als Publikation bei Bellevue Literary Press erschien.
“The Topography of Tears” versammelt die Bilder von Tränen verschiedener Ursprünge, angefangen bei emotionalen Tränen, wie Trauer, Verzweiflung, Wut oder Freude, bis hin zu Reflex-Tränen, wie sie beim Zwiebelschneiden oder dem ungeschützten Blick in die Sonne entstehen. Rose-Lynn Fisher sammelt diese Tränen und überträgt diese auf Trägergläser. Mit Hilfe eines Lichtmikroskops aus den 1970er Jahren betrachtet sie die entstehenden Ansichten der Tränen und nimmt diese mit einer Mikroskop-Kamera auf.
Das Projekt entwickelte sich aus einem Trauerprozess Fishers heraus. Neugierig über die visuelle Beschaffenheit von Tränen sammelte sie diese und machte sie mithilfe eines Lichtmikroskops und einer damit verbundenen Kamera sichtbar. Dabei arbeitete sie nicht ausschließlich mit den Tränen der Trauer, sondern machte die »unsichtbare Welt ihrer Gefühle sichtbar« (Website Fisher, Üb.d.A.), indem sie Tränen aus verschiedenen Gefühlslagen sammelte, um zu untersuchen, ob sich deren Aussehen unterschied. Sie experimentierte mit Aufnahmesituationen (z.B. luftgetrocknete oder zwischen Deckglas eingeschlossene Tränen), Druckverfahren und Papieren. Ihre Arbeit zeigte, dass jede Träne ein individuelles Aussehen hat, selbst wenn sie das gleiche Gefühl zeigt direkt nacheinander in der selben Situation entstanden ist. Neben einer Sichtbarmachung der Gefühlswelt spricht Rose-Lynn Fisher von Landschaften; individuell, einem Fingerabdruck gleich.
»Although the empirical nature of tears is a composition of water, proteins, minerals, hormones, antibodies and enzymes, the topography of tears revealed to me a momentary landscape, transient as the fingerprint of someone in a dream. This series is like an ephemeral atlas. […] [Tears] are the evidence of our inner life overflowing its boundaries, spilling over into consciousness.«
Der niederländische Künstler und Chemie-Laborant Maurice Mikkers begann 2015 mit einem ähnlichen Projekt. In seiner Arbeit verbindet Mikkers Kunst mit Wissenschaft und Technik und bedient sich dabei des Wissens, das er sich während seiner Ausbildung und Arbeit als Laborant, sowie in seinem Kunststudium an der Royal Academy of Art in Den Haag angeeignet hat. Bereits vor seinem 2015 begonnenen und bis heute andauernden Projekt »Imaginarium of Tears« verband er in sogenannten Micrograph-Stories das Mikroskop mit der Fotografie. Während der Arbeit an einer Micrograph-Story stieß sich Mikkers nach eigenen Angaben im Labor derart stark den Zeh, dass auf Grund des Schmerzes einige Tränen flossen. Reflexartig nahm er eine dieser Tränen mit einer Pipette auf und betrachtete sie unter seinem Mikroskop. Der Anblick faszinierte ihn und sorgte für das Entstehen seines Projekts »Imaginarium of Tears«. Er experimientierte mit verschiedenen Mikroskopen und Aufnahmemodi und entschied sich letztlich für das Dunkelfeldmikroskop – anders als Rose-Lynn Fisher, die ein einfaches Lichtmikroskop nutzte. Durch den schwarzen Hintergrund des Dunkelfeldmikroskops und die Beleuchtung des Objekts wurde sowohl die äußere, runde Form, wie auch die kristalline Struktur der Tränen sichtbar.
Mikkers verbindet die Tränenbildern mit kurzen Sätzen zu den Hintergründen der Tränen und zeigt dies online auf der projekteigenen Website “Imaginarium of Tears“. Er spricht von den besonderen Geschichten der Tränen, die er mit diesen zusammen darstellt. Auf seiner Website tauchen diese besonderen Geschichten jedoch lediglich in ein bis zwei Sätzen auf. Sind ein bis zwei Sätze überhaupt in der Lage, die Besonderheit einer Geschichte zu erzählen? Oder traue ich dem Wort, gerade wenn es wie hier affektappellierend auftaucht, zu wenig zu? Auch Fisher arbeitet mit Text. Sie ordnet über deren Betitelung die Bilder ein (z.B. »After the sun came the tears« 2016 oder »Thankful for exactly this« 2017), ohne den kommunizierten Wunsch, damit eine besondere Geschichte erzählen zu wollen. Vielmehr eröffnen die kurzen Titel im Vergleich zu Mikkers Geschichten einen Raum für Imagination bei Betrachter*innen.
Die visuellen Ergebnisse von Mikkers Arbeit sind hoch ästhetisierte Aufnahmen, die mehr an Dekorationsobjekte als an Kunstwerke erinnern. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass Mikkers seine Arbeit über spezielle Tränen-Kits vermarktet. Bis zu einem Preis von 300€ kann sich jeder ein Tränen-Kit bestellen, eine eigenen Träne sammeln und sich je nach Kit ein eigenes Tränenbild nach Hause schicken lassen. Wie wirkt sich eine solch vermarktende Strategie auf die Wahrnehmung seiner Arbeit aus? Sie bewirkt zunächst eine veränderte Wahrnehmung seiner Arbeit, die anfänglich faszinierend schön erscheint. Skepsis und Unsicherheit begleiten die Wahrnehmung und hinterfragen, wie eine solche Strategie gelesen oder anerkannt werden soll. Spricht sie der künstlerischen Arbeit etwas ab? Wirkt sie sich negativ auf die Wertigkeit der Arbeit aus? Oder ist dies eine Ansicht, die zu sehr das individuelle Kunstwerk in den Mittelpunkt stellt, während Mikkers die Ergebnisse seiner Arbeit jederm zugänglich macht, sofern ersie das nötige Kleingeld besitzt? Es bleibt ein Unbehagen.
Ich betrachte die Tränenbilder Fishers und Mikkers mit einer Faszination für das bis dato Unsichtbare. Doch die durch und durch abgestimmte Hyper-Ästhetik bei Mikkers löst nach kurzer Zeit die Faszination durch ein Abstandnehmen ab. Wofür braucht es einen Hintergrund, der in seiner Optik an das Universum mit Sternen und Planeten erinnert? Im Vergleich dazu sind die Bilder Fishers wesentlich reduzierter. Sie beinhalten keine spezielle Beleuchtung, kein Einrahmen in einen Kontext, um die in Tränen ohnehin enthaltende besondere Ästhetik sichtbar zu machen. Im Unterschied zu der Künstlerin Rose-Lynn Fisher arbeitet Maurice Mikkers in der Werbebranche. So ist es nicht verwunderlich, dass eine dort inhärenter Vermarktungsstrategie auch seine künstlerische Arbeit begleitet. Während bei Fisher das Interesse für die Sichtbarmachung und ein Vergleichen von verschiedenen Tränenarten die Antriebsfeder war, die sich erst viele Jahre nach Beginn des Projektes in einer Publikation abschloss, beginnt Mikkers relativ zeitnah mit der Vermarktung von Tränenbildern. Da Tränen an unseren Affektapparat appellieren und etwas Grundlegendes sind, das jeder Mensch selber erlebt hat, ist eine Identifizierung, vor allem, wenn sie mit einer eindrucksvollen, und somit zusätzlich die Affekte ansprechenden Ästhetik einhergeht, einfach hergestellt. Werbung appelliert gezielt an Affekte, da durch diese der Absatz für Produkte steigt. Inwiefern spielt dieses Wissen Mikkers bei seiner Arbeit, dessen Präsentation und Vermarktung eine Rolle?
Zusammenfassend bleibt zu sagen, dass beide Projekte in ihrer Unbekanntheit und eigenen Ästhetik mich zunächst sofort angesprochen haben. Doch bereits nach kurzer Zeit setzte Skepsis ein. Während Fisher sich von einem wissenschaftlich, forschenden Ansatz in ihrer Arbeit distanziert, erhofft Mikkers, im Laufe des Projekts detaillierter Aussagen zur Zusammensetzung und Beschaffenheit von Tränen machen zu können; unter anderem auch durch bessere Technik und eine interdisziplinäre Zusammenarbeit. Seit seinem 2015 begonnenen Projekt haben sich die auf seiner Website präsentierten Bilder jedoch nicht verändert. Es ist kein forschender Prozess sichtbar. Vielmehr tauchen Logos diverser Medienunternehmen auf, die darauf verweisen, wo Informationen über das Projekt publiziert worden sind. Wenn es sich um ein forschendes Projekt handelt, sind dann nicht gerade die unterschiedlichen Prozesse, die Zwischenergebnisse von Interesse? Diese finden sich auf der Plattform Medium.com. Dort unterhält Maurice Mikkers einen Blog, auf dem er über sein Forschungsprojekt, die verschiedenen Etappen und Probleme berichtet. Dass die die anfängliche Faszination abgelöste Unbehagen wandelt sich Fragen. Fragen, die nicht darauf anspielen, eine künstlerische Arbeit als gut oder schlecht, als gelungen oder nicht einzuordnen. Maurice Mikkers »Imaginarium of Tears« resultiert in Fragen, die sich neben seiner Arbeit und dessen Inhalten mit dem Kunstmarkt und dessen Mechanismen auseinandersetzen.. Sein Broterwerb im Design hinterlässt Spuren in seiner künstlerischen Arbeit. Sein Tear-Kit ist eine, nicht weiter verwunderliche, kommerzielle Möglichkeit, um Tränen für sein Projekt zu sammeln und dieses gleichzeitig zu finanzieren. Zu schnell stoßen kommerzielle Aspekte in künstlerischen Arbeiten auf Ablehnung. So auch bei mir. Anderseits ist den meisten bewusst, dass es an Möglichkeiten der Finanzierung künstlerischer (Forschungs-) Projekte mangelt und dass die Kommerzialisierung von Anteilen eigener Arbeit eine legitime Möglichkeit ist, die eigene Arbeit finanziell zu ermöglichen. Doch ein Beigeschmack bleibt.
Mikkers und Fisher teilen eine Neugierde für die visuelle Natur der Tränen. Sie teilen Erkenntnisse, die sich durch die Empfindung nach landschaftlich wirkenden Bildern in den visuellen Resultaten ihrer Arbeit finden. Beide sind fasziniert von dem ersten Anblick einer Träne. Bei beiden ist die Faszination der Antrieb für das daraus entstehende Projekt. Ihre Arbeit verläuft in vielen Bereichen ähnlich, sei es bei der Wahl der Tränen oder dem Experimentieren mit Aufnahmemodi und technischen Möglichkeiten. Beide arbeiten mit Formatierung, Ästhetisierung, Systematisierung und Ökonomisierung, wobei einige dieser Aspekte bei Mikkers deutlich intensiver ausgeprägt sind. Bei beiden tauchen Tränen in ihrer Bildlichkeit auf, während die Praxis des Tränenvergießens in den Hintergrund gerät. Sie verbleiben als eingefrorene Objekte in einem Repräsentatinsmodus ohne die Perspektive der Performativität. Während die Arbeit Fishers seit 2017 abgeschlossen ist, setzt Mikkers mit dem Wunsch nach neuen Erkenntnissen seine Arbeit fort. Zu welchen Ergebnissen er neben dem Erfolg der Vermarktung seiner Arbeiten kommen wird, bleibt gespannt abzuwarten.