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Chor der Solidarität

30. November 2022, Campus der Bauhaus-Universiät Weimar

S p r e c h e r * i n

Heute, am 30. November 2022, ist der 76. Tag der Iran Revolution, das sind beinahe 11 Wochen. Seither gibt es in 150 Städten Proteste, es sind 445 Tote zu beklagen, darunter 63 Kinder, und 18.000 Gefangene. Die Wut wächst mit jedem Tag und mit ihr die Entschlossenheit.

C h o r 1

Wir sind Mahsa (22 Jahre alt), Sarina (17 Jahre alt), Nika (16 Jahre alt), Khodanoor (24 Jahre alt), Kian (10 Jahre alt), Hasti (7 Jahre alt). Wir sind Navid, Hossein, Behnam …

C h o r 2

Wir alle wissen von den gewaltsamen Kämpfen in Iran. Bei der Demonstration für Mahsa Amini am 11. Oktober in Weimar waren wir 350 Menschen – eine beeindruckend diverse Menge, die ungefähr 20.000 Menschen auf den Straßen Berlins entspricht. Für einen Moment standen wir alle in Solidarität zusammen. Aber dieser Moment ging für viele von uns vorbei, denn es ist leicht, Ungerechtigkeiten zu ignorieren, die uns nicht direkt betreffen. Genau das wird Privileg genannt.

S p r e c h e r * i n

Die Proteste in Iran richten sich sowohl gegen das theokratische Regime in Iran als auch gegen die vom Regime diktierten Lebenseinschränkungen, zum Beispiel in Form der Zwangsverschleierung. In Iran kämpfen Frauen darum, sich frei bewegen zu können, ohne dafür geschlagen, verhaftet oder getötet zu werden. Mittlerweile fordern die Demonstrant*innen “Tod dem Diktator”. Es geht um viel, es geht um alles. Es geht um den Umsturz der Islamischen Republik als Gesellschaftsordnung. Es geht um die Umwandlung des Iran in einen säkularen Staat. 

C h o r 2

Die von uns hier in Weimar, die Familie oder Freunde in Iran haben, werden jeden Tag mit verheerenden Nachrichten über die traumatisierenden und tödlichen Folgen des Krieges gegen die iranische Bevölkerung konfrontiert – ein Krieg, der vom Mullah-Regime gegen die eigene Bevölkerung geführt wird. Die Betroffenen haben nicht die Möglichkeit, nach dem Protest zu vergessen. Der Rest von uns sollte mindestens fragen: Wie geht es Euch?

C h o r 1

Hier spreche ich, jemand, der dazwischen steht. Eine Insider*in, die gleichzeitig draußen ist, eine Außenseiter*in, die versucht, ihre Meinung zu sagen. Es wurden schon so viele politische Erklärungen abgegeben. Wir erheben unsere Stimme. Wir sprechen unsere Forderungen nach Gerechtigkeit und Freiheit aus. Wir wollen gehört werden. Wir fordern Veränderungen, wir fordern Taten und nicht nur Versprechungen.

S p r e c h e r * i n

Die mutigen Menschen in Iran haben von ihrem Recht auf zivilen Ungehorsam Gebrauch gemacht und Demonstrationen, Streiks und andere kollektive Veranstaltungen organisiert, um gegen die Menschenrechtsverletzungen in Iran und für ihre Freiheitsrechte zu protestieren. Aktuell müssen sie die Konsequenzen für sich und ihre Familien tragen. Diese können willkürliche Festnahmen, Inhaftierungen oder Ausweisungen bis hin zu Gewalt und Tod sein. 

C h o r 1

Wir haben auf den Straßen aller Länder nach Freiheit gesucht. Wir haben uns in verschiedenen Ländern gefunden. Wir sind hier, wir sind überall. Jeden Morgen sind wir aufgewacht und haben uns Freiheit gewünscht. Wir haben unseren Wunsch in die Ecken aller Straßen geschrien. Wir kämpfen für die Freiheit.

M u t t e r

Wenn ich dich noch ein einziges Mal halten könnte, würde ich dich für immer halten, dich nicht aus dem Haus lassen, dich von der Straße fernhalten. 

Meine Tochter, deine Prüfungen sind vorbei, keine Ergebnisse für dich dort an der Wand der Untergebenen und Unterdrückten. 

Meine Tochter hat alle schlafenden Kreaturen geweckt und in Brand gesteckt. 

Sie hob die Schere im Anblick des Riesen und schnitt sich ihr Haar. Ihr Haar, die Quelle seiner Macht, sie schnitt es ab. 

Meine Tochter wurde größer als die ganze Welt. 

Unsere kleinen Frauen verlieren ihren Verstand, um diese wahnsinnigen Giganten zu überleben.

Ich kenne den Verlust gut, kennt ihr ihn? Fühlt ihr ihn? Verliert Ihr Eure Kinder, wenn sie zur Schule gehen? Meine Kinder demonstrieren in der Schule. Meine intelligenten Kinder haben euch alle im Kampf des Wissens geschlagen. Sie besiegen euch alle im Kampf von Mut und Liebe.

Wie konnte die Welt den Tod meiner Tochter vergessen? Meine Kinder? 

Ich kenne die Anführer, sie sind wahnsinnige Giganten, aber was ist mit den Menschen! Wisst ihr, was Verlust bedeutet? Fühlt ihr es?

Tochter, ich habe dich geopfert, ohne es zu wissen. Du bist zum Köder in einer Kette von Wandel und Widerstand geworden. Ich sollte an deiner Stelle stehen. 

Die Welt hat dich geopfert, wie sie schon andere Held*innen vor dir geopfert hat. 

Wir, die wir alle Arten von Instabilität und Terrorismus, alle Arten von Gier und Entfremdung erlebt haben. 

Wir haben das Gefühl, dass wir dazu verdammt sind, zu sterben und vergessen zu werden. 

Unsere Diktatoren vertreten nicht uns, sondern die Gier anderer Nationen nach unseren Ressourcen und Ländereien. 

Geschäfte und Kriege. 

Waffen und Öl. 

Und während unsere Leute eines von beidem erleiden, wendet sich die Welt von ihnen ab. 

Müssen wir alle Verlust und Unterdrückung erleiden, um vereint zu sein, meine Tochter.

C h o r 2

In Weimar leben wir in relativer Sicherheit. Wir haben das Privileg, in einem Land zu leben, das unser Recht auf Meinungsverschiedenheiten, Versammlungen und Proteste schützt. Die meisten von uns haben das Privileg, in einem Bildungssystem zu studieren, das Gedankenfreiheit und Studiengebühren bietet. Das bedeutet auch, dass wir eine Menge Privilegien haben, derer wir uns vielleicht gar nicht bewusst sind.

C h o r 3

Was machen wir mit diesen Privilegien? Die iranischen Demonstrierenden haben keinen Sitz im UN-Menschenrechtsrat in Genf, sie haben keine Stimme bei den Vereinten Nationen. Wir schon. Deshalb hat Deutschland gemeinsam mit 50 weiteren Ländern die Sondersitzung zu Iran einberufen. 

S p r e c h e r * i n

Ende vergangener Woche hat der UN-Menschenrechtsrat ein Ende der Gewalt gefordert und das Vorgehen der staatlichen Sicherheitskräfte gegen die Demonstrant*innen in Iran verurteilt. Der Rat verabschiedete eine Resolution zur unabhängigen Untersuchung der Gewalt der iranischen Regierung gegen die Protestbewegung. Es war das erste Mal, dass der Rat mit großer Mehrheit für die Einrichtung einer Untersuchungsmission gestimmt hat, die Menschenrechtsverletzungen in Iran untersuchen wird. 

C h o r 3

Die Botschaft sollte lauten: Wir schauen nicht nur zu. Wir gehen auch dorthin, wo wir unsere Stimme einsetzen können, um etwas für die Rechte der Menschen des Iran zu tun. 

C h o r 1

Wir wollen, dass die Welt aufhört, Terroristen die Hand zu reichen, die Menschen als Geiseln nehmen. Wir brauchen keine Hilfe von anderen Regierungen; wir wollen, dass sie aufhören, unseren Feinden zu helfen. Wir wollen, dass sie unsere Feinde nicht mehr bestätigen. Schmeisst sie aus euren Ländern raus, hört auf, Absprachen mit ihnen zu treffen.

C h o r 2

Wir müssen uns auch persönlich fragen: Tun wir genug, um die iranische Revolution zu unterstützen? Und wenn nicht: Warum? Ganz gleich, welche Ressourcen wir haben, um diesen Kampf für die Freiheit zu unterstützen: Es gibt immer etwas, was wir tun können. 

C h o r 3

Zuallererst: Wir schließen uns den Solidaritätsbekundungen an. 

A l l e

Wir verurteilen alle Formen der Verhaftung, Einschüchterung und Repression durch das Unrechtsregime auf das Schärfste. Wir fordern einen sofortigen Stopp der Hinrichtungen. Wir fordern einen Stopp der militärischen Eskalation, des Abschusses von Raketen auf die Provinzen in Iran und der Militarisierung zur Niederschlagung der Proteste. Wir fordern die sofortige und bedingungslose Freilassung aller politischen Gefangenen. Wir fordern die sofortige Beendigung der systematischen Vergewaltigungen in den Gefängnissen; eine Form von Gewalt, die schon immer Teil von Repression war und nun öffentlich wird. Wir fordern die Aufklärung von Misshandlungen, Folter und Todesfällen in der Haft. 

A l l e

Wir fordern für unsere Freund*innen die Auflösung der Sittenpolizei und Maßnahmen, damit die Gleichstellung der Geschlechter garantiert ist. Wir fordern die Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte. Wir schließen uns an: Frau. Leben. Freiheit.

C h o r 2

Und darüber hinaus? Was können und müssen wir selbst tun? Wir können lernen, betroffen zu sein und betroffen zu bleiben. Wir können uns den schwierigen Gefühlen stellen, die durch die Ereignisse ausgelöst werden. Wir können uns um diejenigen von uns kümmern, die in ständiger Sorge um ihre Liebsten sind. Wir können an den iranischen Freiheitskampf erinnern, wenn andere ihn in den globalen oder lokalen Kämpfen um Gerechtigkeit vergessen. 

C h o r 1

Erinnert euch an unseren Mut. Wir dokumentieren unseren Tod. Wir werden vergewaltigt. Wir werden gefoltert, wir sind im Gefängnis, wir werden zensiert, doch wir schweigen nicht. Wir sind mutig. Unser Blut ist da draußen und wir kämpfen noch immer auf den blutigen Straßen.

C h o r 2

Unsere Liebe und unsere Wut verbinden uns miteinander, trotz unserer unterschiedlichen Situationen. Gemeinsam sind wir der Stachel im Fleisch des Systems, die Axt für das gefrorene Meer in uns.

S p r e c h e r * i n

Die Proteste haben einen revolutionären Charakter, weil sie eine Bewegung der gesamten iranischen Gesellschaft sind. Aber die Revolutionär*innen müssen sich darauf verlassen können, dass sie jetzt und in der Zeit danach die Unterstützung der demokratischen Staaten haben. Wir müssen die Rufe der Menschen in Iran nach Freiheit und Gleichberechtigung verstärken, damit sie überall gehört werden. Dann werden die unterdrückten Menschen in Iran nicht ruhen.

C h o i r 1

Wir sind Zeugen der Ermordung unserer Brüder und Schwestern, wir sagen ihre Namen. Say our names. Erinnert euch an uns. Wir sind Mahsa (22 Jahre alt), Sarina (17 Jahre alt), Nika (16 Jahre alt), Khodanoor (24 Jahre alt), Kian (10 Jahre alt) Hasti (7 Jahre alt). Wir sind Navid, Hossein, Behnam … Sagt unseren Namen im Namen der Freiheit. Dies ist nicht nur eine Revolution für Brot, wir sprechen das Unausgesprochene aus. Nach so vielen Jahren der Angst und Bedrohung rufen wir nach Freiheit. Im Namen von Frau, Leben, Freiheit.

A l l e

FRAU. LEBEN. FREIHEIT.