Categories
existing

Wo wir weinen

Seit wir die ersten Meetings des „Crying Institute“ hatten, gehe ich viel sensibilisierter durch die Welt, was das Thema Weinen, Tränen, etc. angeht. So ist mir dann auch aufgefallen, dass es Orte gibt, die einladender zum Weinen wirken als andere. Es gibt sogar Orte, an denen das Weinen ganz ausdrücklich erlaubt ist (zum Beispiel in der Therapiestunde) und Orte, an denen das Weinen untersagt ist – weil zum Beispiel „Lärm“ verboten ist (Bibliothek).


Dann habe ich mich natürlich gefragt, woran das liegt. Was muss ein Ort, ein Raum, eine Umgebung also erfüllen, dass man dort a. gern weinen möchte und b. auch weinen darf? 

Bei meiner Online-Recherche hat sich nicht so wahnsinnig viel ergeben. Vor allem im deutschsprachigen Bereich habe ich wenig zu dem Thema gefunden. Egal wie ich meine Sucheingabe formuliert habe, die meisten Ergebnisse die mir angezeigt wurden, hatten mit Urlaubsorten für Weinliebhaber*innen zu tun oder der richtigen Lagerung von Weinsorten. Bei meiner englischsprachigen Recherche bin ich etwas fündiger geworden. Hier hier gibt es immerhin Artikel, die einem Orte in Städten wie zum Beispiel Boston, New York oder London aufzählen, an denen man am besten weinen kann. Und auch verschiedene Unis haben eine Sammlung dieser Orte an ihrem jeweiligen Campus veröffentlicht. Außerdem bin ich auf den sog. „Cry Room“ (oder interessanterweise auch „mothers’ room“ genannt) gestoßen, ein zum Weinen eingerichtetes Zimmer, das es wohl zum Beispiel in Theatern, Kinos und Kirchen gibt/gab. Allerdings sind diese Räume ursprünglich für weinende Kinder gewesen, damit diese den Rest der Besucher*innen nicht „stören“. In Madrid wurde diese Idee wieder aufgegriffen – allerdings für alle Altersgruppen. Über diesen „Crying Room“ hat Nadja Kracunovic bereits genauer auf dem Blog berichtet: https://cryinginstitute.artnextsociety.net/2022/12/01/crying-rooms/

Da ich mir von der Recherche aber etwas anderes erhofft hatte, dachte ich, dass ich mir die Antworten einfach selbst zusammensuchen muss. Also habe ich kurzerhand eine kleine Umfrage in meinem Freundes-, Familien- und Bekanntenkreis gestartet:

Die Antwort, die wohl am häufigsten kam, war, dass im eigenen Zimmer – meist im Bett – am besten und liebsten geweint wird. Grund hierfür ist die Geborgenheit, dass man Kissen und Decke hat und vor allem: die Privatsphäre. Diese ist generell ein Faktor, der viele Bereiche zum ausgewählten „Heul-Ort“ gemacht hat. Das Allein- und Unbeobachtetsein wird hier groß geschrieben. 

Am zweit häufigsten wurde mit Abstand die “Natur” genannt. Das kann ich persönlich sehr gut nachempfinden. Die unendliche Weite und somit vielleicht eine gewisse Freiheit kann einem schon mal helfen, den Gefühlen freien Lauf zu lassen. Außerdem macht die Natur etwas mit einem, da sie nicht wie das eigene Zimmer oder andere Orte „menschengemacht“ ist. Man ist im Prinzip machtlos. Die Atmosphäre, die an einem vor sich hin plätschernden Gewässer oder einem endlosen Wald entstehen kann, ist einmalig. Auch die Ruhe, die in der Natur zu finden ist, ist eine ganz eigene. Selbst, wenn es nicht mucksmäuschenstill ist. Vogelgezwitscher, raschelnde Blätter im Wind oder auch Regentropfen lassen einen so gut entspannen, wie wenig andere Geräusche (natürlich auch nur bis zu einer gewissen Dosis). 

Eine Antwort, die ich auch oft bekam, ist mehr ein Moment oder eine Situation anstatt eines festgelegter Ortes. Es waren sich eigentlich alle einig, dass man beim Weinen nicht immer allein sein muss. Viele nannten Orte wie „bei Freund*innen“ oder „im Arm einer vertrauten Person“ oder sogar „beim Telefonieren mit mir nahestehenden Menschen“. 

Die Kirche, der Friedhof, das Bestattungsunternehmen und andere spirituelle Räume wurden ebenso viel genannt. Auch wenn man in der Kirche nicht immer weint, weil man um eine verstorbene Person trauert, die Verbindung ist irgendwie da. Die Orte tragen meist einfach eine Atmosphäre mit sich, die zum Weinen einlädt und man würde sich wohl viel eher über eine weinende Person im Einkaufszentrum als auf einem Friedhof wundern. Hier taucht der Aspekt auf, wie das eigene Weinen auf eine andere, womöglich fremde Person wirken könnte. 

Der nächste Ort, den ich oft als Antwort bekommen habe, hängt ebenfalls davon ab. Den ÖPNV, der ICE, die U-Bahn etc. wurden sowohl bei den Orten, an denen man gern weint, als auch bei den Orten, an denen man auf keinen Fall weinen möchte, häufig genannt. Hierbei war auch immer ausschlaggebend, ob man allein ist und beim Weinen „erwischt“ wird oder nicht. Einige meinten sogar, dass durch das Tragen von Masken das Weinen im Zug einfacher war, weil man es besser verstecken konnte. Ein Thema, das auf jeden Fall bei meiner Sammlung von Orten, an denen man nie weinen möchte, eine besonders große Rollte spielt. Aber dazu später mehr …

Bei Antworten, die mehr damit zu tun hatten, wo es „erlaubt“ ist, zu weinen, kamen Orte wie Krankenhäuser, Therapiesprechstunden, Arztpraxen… und in der Küche beim Zwiebelschneiden. 

Außerdem kamen noch interessante Räume wie das Kino oder der Club vor – hier spielen wohl auf jeden Fall äußere Einflüsse wie Musik, Film, Alkohol etc. eine große Rolle und sind vielleicht sogar der Auslöser für das Weinen. Zuletzt wurden noch Örtlichkeiten genannt, die mit körperlicher Bewegung zu tun hatten: im Schwimmbad, auf der Yoga Matte, beim Fahrradfahren. Ich kenne es von mir selbst auch, dass bei physischer Anstrengung einfach Emotionen frei gesetzt werden, weil man plötzlich Stress abbaut. Aber natürlich kann dies auch wieder andere Gründe haben: Erinnerungen an ein traumatisches Erlebnis – zum Beispiel im Zusammenhang mit Meditation, Verzweiflung oder aber auch Freudentränen. Eine Art des Weinens, die ich in der Umfrage anfangs gar nicht so sehr beachtet habe, da die traurigen Tränen irgendwie doch eine größere Rolle im Alltag spielen – für mich zumindest. 

Der zweite Teil meiner Umfrage war nicht ansatzweise so vielfältig wie der erste. Bei der Frage, wo man eher nicht weinen würde, hatten viele entweder gar keine Antwort oder waren sich sehr einig. In der Öffentlichkeit (also vor vielen, fremden Menschen) und vor allen Dingen im professionellen Kontext ist Weinen ein No Go. Die Schule, Universität und Arbeit wurden etliche Male genannt. Hierbei ging es meistens darum, nicht zu viele Gefühle zu zeigen, um nicht angreifbar zu sein. Die seriöse Maske soll nicht fallen, Privates (in dem Fall also Emotionen?) soll vom Beruflichen getrennt werden. Man möchte nicht negativ auffallen, nicht nerven, keine Zeit verschwenden. 

Räume, in denen es strikt verboten ist, zu weinen, konnte ich nicht finden. Allerdings kommt mit einigen Verboten natürlich, dass das Weinen mehr oder weniger untersagt ist – zum Beispiel wegen Lärmbelästigung oder Störung. Schilder, dass hier Lärm verboten sei oder dass um Ruhe gebeten wird, gibt es viele und in den verschiedensten Ausführungen. Das einzige Schild, das ich hier im direkten Zusammenhang zu Tränen finden konnte, waren Schilder, die ein weinendes Kind abbilden, das durchgestrichen ist. Ziemlich gemein.  

Ich bin mir bewusst, dass es auch sinnvolle Gründe dafür gibt, weshalb man an manchen Orten besser nicht weint. Ich wünschte nur, dass sich diese klaren Grenzen etwas auflockern würden. Schön wäre es doch zum Beispiel, wenn das Weinen generell nicht als Schwäche aufgefasst wird. Somit wäre es viel akzeptierter, auch mal im Büro loszuheulen, wenn einem gerade alles zu viel wird. Oder man würde nicht schief und mitleidig angeschaut werden, wenn man mal kurz eine kleine tränenreiche Pause von der Vorlesung braucht. Auch, wenn „Crying rooms“ sicherlich schon einmal ein guter Ansatz sind, da das Thema somit nicht einfach totgeschwiegen wird – das Weinen wird ja trotzdem als etwas Sonderbares behandelt, das unbeobachtet und abgegrenzt in einem Kämmerchen stattfinden muss.

Wo weinst du denn am liebsten? 

Quellen/interessante Artikel:

https://en.wikipedia.org/wiki/Cry_room

https://filmlexikon.uni-kiel.de/doku.php/c:cryingroom-9203

https://www.heute.at/s/madrid-hat-jetzt-eigenen-raum-zum-weinen-100169810https://mitvergnuegen.com/2017/schoener-leiden-warum-jeder-einen-guten-ort-zum-heulen-haben-sollte/

https://taz.de/Kolumne-Zwischen-Menschen/!5601953/