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Das Grün meiner Tränen

illustriert von Jeremy Wiener

Weinen verläuft nicht konstant linear, es lässt fließen, was mehrschichtig ist. Es handelt sich dabei nicht nur um eine einzige Art von emotionalen Tränen, sondern hunderten, die durch die verschiedensten Verformungsstationen laufen. Viele davon werden zigmal hinterfragt, ob sie ausreichend aufrichtig und angemessen sind, damit sie fließen dürfen. Danach fließen sie. Und dann wird nochmal hinterfragt. Auch gibt es welche, die kommen durch ein kleines Lächeln zustande. Sie quellen mit den anderen Tränen der Trauer, des Frusts, der Überforderung zusammen über, weil man ja irgendwie die kleinlich wirkenden Impulse der netten Erleichterung im Angesicht der grundverwirrenden Krise auch noch rausschießen muss.

Das Weinwasser füllt meinen Raum. Je mehr an Niederschlag fällt und sich an Hitze entfaltet, desto tropischer wird es. Ein Klima, worauf meine Pflanze reagiert. Kurz doch: Sie reagiert nicht auf das Klima, sondern ursprünglich auf meine Tränen. Vielleicht weine ich nicht (nur) für mich, sondern auch für meine Pflanze. Bedauernswert, aber warum sollte ich sonst für mich weinen? Sie versucht, ihr eigenes Wasser loszuwerden – wie ich meines – zu transpirieren, damit sie sich versorgt. So muss es bedeuten, dass ich für mich weine, damit ich mich selbst umsorge, wenn kein anderer Mensch mit mir weint oder mir Aufmerksamkeit schenkt. Aufmerksamkeit kommt nicht immer nur von Menschen. Alles kann eine Projektionsfläche fürs eigene Geweine sein – Worte, Blicke, Ideen, Erinnerungen, Träume, Nostalgien, Infantilisierungen, Dystopien, Verwirrungen, Besuche, Haustiere oder eben auch Pflanzen. Egal, ob die Pflanze über mich denkt oder sie überhaupt nicht denkt, weil sie gerade und für immer einfach nicht die Nerven hat, sie muss genauso die Situation kompensieren, wie ich es tue. Ich stecke sie an und der Gedanke darüber, dass sie von mir angesteckt wird, infiziert mich weiter.

Es wird immer feuchter und stickiger im Raum. Ein Druck entsteht, der mich ans Bett klammert und mich weiter heulen lässt. Für sie reicht es nicht mehr aus, Wasserdampf auszustoßen, es tropft nun bei ihr. Durch meinen fetten Tränenfilm hindurch wie bei einer Brille mit zu starken Linsen blicke ich auf die Blätter der Pflanze mit ihren Zacken. Sie sehen aus wie Wimpern und schlagen sich schwer, die dicken Tropfen, die sie festhalten, auch wirklich nicht loszulassen.

Aber das Blatt hält es nicht aus, meine Lider schließen sich, der Tropfen fällt.

Obwohl sie nur zusätzlich Wasser verliert, will ich darin etwas sehen – ein Zeichen, eine mystische Offenbarung, irgendetwas, was auf mich reagiert, es mir gleichtut und mir mehr gibt. Ich benetze den Raum nicht nur mit immer mehr Tränensekret, sondern lasse wimmernde Geräusche hineinpoltern – auch hier, schätze ich, absorbiert meine Pflanze als würde sie Musik hören … ich weiß nicht wirklich, was sie davon hält. Hinterlässt sie eine Salzkruste auf ihrem Blatt, so hinterlasse ich das auch. Es muss trocknen und salzig schmecken, damit ich dann mit feuchter Tinte bittersüße Wörter schreiben kann.

Die Pflanze umsorgt sich somit in einer Krisensituation, dabei denke ich, dasselbe auch zu tun. Dass trotz momentanen Zerbrechens, ich danach frischer und reiner bin. Voller neuer Nährstoffe. Es greifen Momente der Realisierung, dass das nicht für immer ist, sie aufhört mit dem, was sie tut, und ich dennoch weiter weine – wieder allein gelassen zu werden. Vielleicht brauche ich länger als sie. Manchmal halte ich mein Weinen für lächerlich, aber ich lasse es zu, damit ich etwas habe, um danach zu lachen. Wer darf bewerten, ob meine Tränen echt sind oder ob ich weinen darf, wenn ich‘s doch selbst nicht weiß?

Und schließlich hörte ich auf zu weinen.

Was es auch immer war, was sich nun zum Fluss ergab,

hält sich nun als Nebel bereit,

die Gefühlssphären anderer Weinender zu bewandern

Befeuchtend Verklumpend Erstickend

damit Nächste sie im hellen Liegen absorbieren,

wartend bis ihre Tränensuppen versiegen,

um den Grund zu sehen.

von Jeremy Wiener      

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