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Menschen weinen, weil Pflanzen weinen, weil Menschen weinen

Quelle: https://hjschlichting.files.wordpress.com/2016/07/guttation2_rv.jpg

Menschen weinen als Reaktion auf eine Krise, die das eigene Körpersystem verwirrt und zerrüttet. Ein Prozess des Druckablasses und die Suche nach Sicherheit und Halt wird durch den verletzlichen Organismus eingeleitet. Genauer beginnt die fleischliche Oberfläche zu bröckeln, damit die Tränen die zarten emotionalen Samen des Menschen bewässern können. Eine Pflanzen-Menschen-Hybrid-Metaphorik baut sich auf, die nicht von ungefähr kommt. Schließlich scheint das rhetorische Potenzial enorm, das Tränen der Pflanzen im Prozess der Guttation zu erkennen.

Guttation ist ein Notfallmechanismus von Pflanzen, die sich in Lebensräumen aufhalten, wo eine zu starke Luftfeuchtigkeit vorherrscht, sodass es unmöglich ist, zu transpirieren. Somit kann der Vorgang – zum Weinen analog – als Krisenschutzhebel verstanden werden, der statt Wasserdampf Wasser durch die Blattenden absondert. Dieses Wasser perlt in Tropfenform vom Blatt wie die Träne über die Wange. Die Guttation scheint auch seinen Namen von dieser Erscheinung zu haben, da es sich vom französischen „la goutte“, zu Deutsch „der Tropfen“, ableitet.

Das, was in Tropfenform ausgeschieden wird, nennt sich Xylemsaft. Bei diesem handelt es sich um Guttationsflüssigkeit bestehend aus Phytohormonen, die in Wasser gelöst von den Wurzeln über den Spross durch die Hydathoden an den Blättern herausgedrückt werden. Phytohormone werden auch umgangssprachlich „Pflanzenhormone“ genannt und sind wie beim Menschen für die Regulierung der Entwicklung und des Wachstums der Pflanze zuständig. Nennenswerte Beispiel hierfür sind Florigen oder Cytokinin. Bei den Hydathoden handelt es sich um Wasserspalten, über die die Guttationsflüssigkeit durch Wurzeldruck an die Umwelt abgegeben wird, um den Wasserstrom und Mineralienaustausch aufrechtzuerhalten.

Folglich kann die Guttation als Kompensationsstrategie mancher Pflanzen begriffen werden, die mit sich führt, von einem inneren Druck geformte „Tränen“ nach außen zu pressen, wenn die Umgebung eine luftüberfeuchte Krisensituation herbeiführt (anders zu den von außen gebildeten Tautropfen). Neben den physischen Analogien, die zwischen menschlichen und pflanzlichen Tränen möglich sind herzustellen, wie z.B. die Tropfenform oder die Ausscheidung in Wasser gelöster Salze und Mineralien, eignen sich metaphorische Parallelen besser für die eigene

CRYING REFLECTION.

So wie wir schnell Gesichter in bestimmten Strukturen erkennen, äußern wir scheinbar schnell unsere Vermutung, dass das Tropfen eines Wesens oder gar einer Sache an den Prozess des Tränens erinnert. Unsere empathische Fähigkeit motiviert diesen Vergleich, da wir nicht wirklich schätzen, was tatsächlich der Grund für das bildähnliche Tränen von Hundeaugen oder das Harzen von Baumrinde sein soll, sondern unseren eigenen Moment des Weinens darin sehen. Vielleicht gerade, weil wir keine genaue Antwort darauf haben, warum wir manchmal weinen. Dabei kommt der Gedanke auf, dass durch die Guttation eine simple, aber wesentliche Begründung geboten wird. Es geht hierbei um die Aufrechterhaltung des verletzlichen Systems einer zum Überleben getriebenen Lebewesen – ob Pflanze oder Mensch. Gerade im Moment des Zusammenbruchs können Tränen helfen, den Druck aus dem inneren mit dem Druck von außen wieder in Balance zu bringen bis man aufhört, Salzwasser auszustoßen, um nicht auszutrocknen.

Ein Tränenkreislauf wird hergestellt.

Der zyklische Ablass und Aufnahme von Druck soll (scheinbar im Sinne eigener poetischer Ansprüche) als Ventil dienen, das Wasser, wie den Xylemsaft, nicht zu eliminieren, sondern erst als flüssige Tropfen abzugeben, die verdampfen, um folglich ein weiteren Organismus in den Zustand des reinigenden Weinens zu bringen. Wiederum erhöht sich der Wassergehalt in dessen Umgebungsraum. Der Wasserdampf wird absorbiert und kann das Überlaufen des Körpers mit Tränen erneut begünstigen. Tränen werden zu Tränendampf und der Kreislauf wird fortgefahren. Zusammen im selben Raum zu sein, der durch eigenes Weinen luftfeuchter wird, stellt einen eigens bezeichneten „Pumpraum der Katharsis“ dar, in dem sich die Wesen im Mit- oder Gegeneinander anweinen.

Schematischer Tränenkreislauf von mir
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Das Grün meiner Tränen

illustriert von Jeremy Wiener

Weinen verläuft nicht konstant linear, es lässt fließen, was mehrschichtig ist. Es handelt sich dabei nicht nur um eine einzige Art von emotionalen Tränen, sondern hunderten, die durch die verschiedensten Verformungsstationen laufen. Viele davon werden zigmal hinterfragt, ob sie ausreichend aufrichtig und angemessen sind, damit sie fließen dürfen. Danach fließen sie. Und dann wird nochmal hinterfragt. Auch gibt es welche, die kommen durch ein kleines Lächeln zustande. Sie quellen mit den anderen Tränen der Trauer, des Frusts, der Überforderung zusammen über, weil man ja irgendwie die kleinlich wirkenden Impulse der netten Erleichterung im Angesicht der grundverwirrenden Krise auch noch rausschießen muss.

Das Weinwasser füllt meinen Raum. Je mehr an Niederschlag fällt und sich an Hitze entfaltet, desto tropischer wird es. Ein Klima, worauf meine Pflanze reagiert. Kurz doch: Sie reagiert nicht auf das Klima, sondern ursprünglich auf meine Tränen. Vielleicht weine ich nicht (nur) für mich, sondern auch für meine Pflanze. Bedauernswert, aber warum sollte ich sonst für mich weinen? Sie versucht, ihr eigenes Wasser loszuwerden – wie ich meines – zu transpirieren, damit sie sich versorgt. So muss es bedeuten, dass ich für mich weine, damit ich mich selbst umsorge, wenn kein anderer Mensch mit mir weint oder mir Aufmerksamkeit schenkt. Aufmerksamkeit kommt nicht immer nur von Menschen. Alles kann eine Projektionsfläche fürs eigene Geweine sein – Worte, Blicke, Ideen, Erinnerungen, Träume, Nostalgien, Infantilisierungen, Dystopien, Verwirrungen, Besuche, Haustiere oder eben auch Pflanzen. Egal, ob die Pflanze über mich denkt oder sie überhaupt nicht denkt, weil sie gerade und für immer einfach nicht die Nerven hat, sie muss genauso die Situation kompensieren, wie ich es tue. Ich stecke sie an und der Gedanke darüber, dass sie von mir angesteckt wird, infiziert mich weiter.

Es wird immer feuchter und stickiger im Raum. Ein Druck entsteht, der mich ans Bett klammert und mich weiter heulen lässt. Für sie reicht es nicht mehr aus, Wasserdampf auszustoßen, es tropft nun bei ihr. Durch meinen fetten Tränenfilm hindurch wie bei einer Brille mit zu starken Linsen blicke ich auf die Blätter der Pflanze mit ihren Zacken. Sie sehen aus wie Wimpern und schlagen sich schwer, die dicken Tropfen, die sie festhalten, auch wirklich nicht loszulassen.

Aber das Blatt hält es nicht aus, meine Lider schließen sich, der Tropfen fällt.

Obwohl sie nur zusätzlich Wasser verliert, will ich darin etwas sehen – ein Zeichen, eine mystische Offenbarung, irgendetwas, was auf mich reagiert, es mir gleichtut und mir mehr gibt. Ich benetze den Raum nicht nur mit immer mehr Tränensekret, sondern lasse wimmernde Geräusche hineinpoltern – auch hier, schätze ich, absorbiert meine Pflanze als würde sie Musik hören … ich weiß nicht wirklich, was sie davon hält. Hinterlässt sie eine Salzkruste auf ihrem Blatt, so hinterlasse ich das auch. Es muss trocknen und salzig schmecken, damit ich dann mit feuchter Tinte bittersüße Wörter schreiben kann.

Die Pflanze umsorgt sich somit in einer Krisensituation, dabei denke ich, dasselbe auch zu tun. Dass trotz momentanen Zerbrechens, ich danach frischer und reiner bin. Voller neuer Nährstoffe. Es greifen Momente der Realisierung, dass das nicht für immer ist, sie aufhört mit dem, was sie tut, und ich dennoch weiter weine – wieder allein gelassen zu werden. Vielleicht brauche ich länger als sie. Manchmal halte ich mein Weinen für lächerlich, aber ich lasse es zu, damit ich etwas habe, um danach zu lachen. Wer darf bewerten, ob meine Tränen echt sind oder ob ich weinen darf, wenn ich‘s doch selbst nicht weiß?

Und schließlich hörte ich auf zu weinen.

Was es auch immer war, was sich nun zum Fluss ergab,

hält sich nun als Nebel bereit,

die Gefühlssphären anderer Weinender zu bewandern

Befeuchtend Verklumpend Erstickend

damit Nächste sie im hellen Liegen absorbieren,

wartend bis ihre Tränensuppen versiegen,

um den Grund zu sehen.

von Jeremy Wiener