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Tränen&Gas&Patronen

Mit ihrer Video-Investigation „Triple-Chaser“, 2019 auf der Whitney-Biennale in New York gezeigt, operiert Forensic Architecture auf mehreren investigativen Ebenen:

  • Die Videountersuchung (gemeinsam mit Praxis Film) informiert über die Geschäfte des mittlerweile ehemaligen Vize-Vorstands des Kuratoriums des Whitney Museum of American Art, New York, Warren B. Kanders: Kanders besitzt Anteile am US-amerikanischen Geschosshersteller „Sierra Bullets“, das Hochgeschwindigkeitsgeschosse produziert, die u. a. vom israelischen Militär in Gaza gegen zivile Demonstrant*innen eingesetzt wurden. Kanders Firma „Safariland“ stellt unter anderem Tränengaspatronen her, mit denen an der US-Mexikanischen Grenze Asylsuchende und in Ferguson, Missouri, zivile Demonstranten beschossen wurden. Forensic Architecture belegt ebenfalls den Einsatz von Safariland-Produkten durch die Polizei während der Unruhen in Puerto Rico im Jahr 2018.
  • Für ihren Film „Triple-Chaser“ hat FA einen Algorithmus (als Open-Source-Software) darauf trainiert, auf Fotos Tränengaspatronen des Typs „Triple-Chaser“ von Safariland zu erkennen. Da Bilder dieser Munition selten sind, wurde ein digitales Modell erstellt, um die Munition anhand dieses Modells identifizieren zu können.
  • FA zog am 20. Juli 2019 ihren Betrag aus der Whitney-Biennale zurück. Diese Entscheidung war eine Reaktion auf die Untätigkeit des Whitney Museums im Umgang mit den Vorwürfen gegen Kanders. Nach Protesten von “Decolonize This Place” trat Kanders am 25. Juli 2019 aus dem Kuratorium des Whitney zurück. Daraufhin entschied FA zusammen mit anderen, ihre Beiträge zur Whitney-Biennale nicht zurückzuziehen.

Forensic Architecture ist eine multidisziplinäre Forscher*innengruppe, bestehend aus Architekt*innen, Archäolog*innen, IT-Spezialist*innen, Künstler*innen, Filmemacher*innen und Rechtsanwält*innen unter der Leitung von Eyal Weizman, mit Sitz am Londoner Goldsmiths. 

Seit 2011 klärt FA unter Einsatz architektonischer Techniken und Technologien, räumlicher und medialer Untersuchungsmethoden, Bildgebungs- und Bilddeutungsverfahren weltweite Fälle staatlicher Gewalt und von Menschenrechtsverletzungen auf, z.B. in Argentinien, Griechenland, Indonesien, Irak, im Mittelmehr, Pakistan, Spanien, Serbien, USA und in Deutschland. Auf der Grundlage sowohl von öffentlich zugänglichem Bild-, Ton- und Textmaterial als auch von Datenleaks erarbeitet FA Gegenbeweise zu staatlichen Informationspolitiken und Beweismittel für Klagen. FA unterstützt damit Menschenrechts- und Umweltorganisationen bei Beweisführungen etwa am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.

Abb.: Three Doors, Forensic Architecture/Forensis, Initiative 19. Februar Hanau, Initiative in Gedenken an Oury Jalloh @ HKW Berlin, 5.11. bis 30.12.2022
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Die Geschichte von Marinas Tränen

In ihrer Performacne “The Artist is Present” im New Yorker Museum of Modern Art 2010 teilte Marina Abramović mit jedem Menschen, der ihr gegenüber abwechselnd am Tisch saß, eine Minute der Stille. Fast drei Monate lang, acht Stunden am Tag begegneten sich die Blicke von Marina und etwa Eintausend Besucher*innen.

Plötzlich saß ihr ehemaliger Partner Ulay vor ihr … 

Marina Abramović und Ulay arbeiteten und lebten von 1976 bis 1988 zusammen.

Relation in Space, 1976, aus der Serie: Relation Work 1976 – 1979, Analogvideo, Betacam SP, b/w, mono, 00:14:34, Sammlung ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, http://www.medienkunstnetz.de/werke/relation-in-space/video/1/

Relation in Time, 1977, aus der Serie: Relation Work 1976 – 1979, Analogvideo, Betacam SP, b/w, mono, 00:11:57, Sammlung ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, https://zkm.de/en/artwork/relation-in-time

Breathing in – Breathing out, 1977, aus der Serie: Relation Work 1976 – 1979, Analogvideo, Betacam SP, s/w, mono, 00:11:30, Sammlung: ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, https://zkm.de/en/artwork/breathing-in-breathing-out

Breathing out – Breathing in, filmische Aufzeichnung einer vom Stedelijk Museum in Auftrag gegebenen Performance aus dem Jahr 1977, die ohne Publikum stattfand, https://www.stedelijk.nl/en/collection/9811-ulay-breathing-out-breathing-in-%28performance-10%29

Rest Energy, aufgenommen 1980 im Filmstudio Amsterdam, aus der Serie: That Self, 00:04:00, Sammlung: Netherlands Media Art Institute Amsterdam.Weiteres: https://www.moma.org/audio/playlist/243/3120

https://en.wikipedia.org/wiki/Rest_Energy_(performance_piece)

Night Sea Crossing, The Observer: – le temps d’une cigarette -, 1984, aus der Serie: Modus Vivendi, Analogvideo, Betacam SP, Farbe, mono, 00:06:03, Mitwirkende: Rémy Zaugg (Drehbuch, Darsteller), Ton Illegems (Kamera), Marina Abramović (Darsteller*in), Ulay (Darsteller*in), Michael Stefanowsky (Darsteller, Sprecher), Sammlung: ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, https://zkm.de/de/werk/night-sea-crossing

The Lovers, The Great Wall Walk, 1988, Zwei-Kanal-Video, Farbe, Ton, 16:45 Min., Stichting LIMA, Courtesy of the Marina Abramović Archives and Murray Grigor, based on the 1988 performance, http://www.medienkunstnetz.de/werke/the-lovers/

Später führten Abramović und Ulay einen Rechtsstreit über die Verwaltung der Urheberrechte ihrer gemeinsamen Arbeit. Abramović schuldete Ulay, wie ein Gericht in Amsterdam 2016 entschied, sowohl Schadenersatz als auch die Erwähnung seines Namen in ihren gemeinsamen Arbeiten, die Abramović bis dahin allein vermarktete (https://www.theguardian.com/artanddesign/2016/sep/21/ulay-claims-legal-victory-in-case-against-ex-partner-marina-abramovic).

Zurück zum Anfang der hier erzählten Geschichte:

Plötzlich saß ihr ehemaliger Partner Ulay im MoMA vor ihr … 

Fragen: 

Ändern sich Marinas Tränen in Kenntnis der Geschichte von Abramović und Ulay? 

Empfinden Sie diese Tränen, die als die „bewegendsten Tränen der jüngeren Kunstgeschichte“ beschrieben werden, als kitschig, als Tränen der Rührseligkeit, des Mitgefühls, der Freude, der Überraschung, der Überwältigung, der Überforderung, des Schocks …?

Sind Marinas Tränen andere als Ulays feuchte Augen? Und andere als unsere, wenn wir geweint haben sollten?

Was erzählen diese Tränen über Marina, was über Ulay und was über uns?

Drei Anmerkungen zur Wahrnehmung der Wahrnehmung:

  • Die Betrachter*in ist in der Form. Vgl. Dirk Baecker: Beobachter unter sich, Suhrkamp 2013. Vgl. Wolfgang Kemp: Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, DuMont 1992.

  • Vienna Integrated Model of top-down and bottom-up processes in Art Perception (VIMAP), 2017

Keywords: Art perception, Cognitive model, Neuroaesthetics, Emotion, Top-down bottom-up integration

Vgl. Matthew Pelowski u. a.: Move me, astonish me… delight my eyes and brain: The Vienna integrated model of top-down and bottom-up processes in art perception (VIMAP) and corresponding affective, evaluative, and neurophysiological correlates, in: Physics of Life Reviews, Bd. 21, 2017, S. 80–125, https://doi.org/10.1016/j.plrev.2017.02.003 [Abruf: 10.11.2022]

Beispiele:

  • Bestätigungsfehler / Confirmation bias: Die Neigung, Informationen so auszuwählen, dass sie die eigenen Erwartungen erfüllen.
  • Emotionale Beweisführung: Die Neigung, eine empfundene Emotion als Beweis für eine Annahme zu betrachten.
  • Projektionsfehler / Projection bias: Verzerrung bei der Gefühlsvorhersage (Affective Forecasting). Tendenz die eigenen Gefühle, Einstellungen und Glauben auf andere Personen oder sich selber in der Zukunft zu projizieren.
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Bas Jan Ader: I’m Too Sad to Tell You, 1970/71

  • mixed media artwork: three and a half minutes black-and-white silent film, 16-mm, 3’21”, still photographs and a post card
  • more: https://en.wikipedia.org/wiki/I’m_too_sad_to_tell_you
  • title of three separate works that took on the same theme and imagery: the first was a photograph in 1970; the second a postcard sent to his friends and acquaintances later that year; and the third a t hree-minute film shot in 1971
  • Source: Janna Schoenberger 2015: Bas Jan Ader’s Ludic Conceptualism: Performing a Transnational Identity, https://www.academia.edu/19080701/Bas_Jan_Aders_Ludic_Conceptualism_Performing_a_Transnational_Identity
  • camera: Peter Bakker 
  • close-up
  • conceptual short film as distance from the commercial Hollywood film
  • Cinema as ‘small’ art, as art mineur
  • “In the spirit of this provision, the French psychiatrist and philosopher Félix Guattari proposed in the mid-1970s to examine not characters and intrigues but ‘systèmes des intensités, des gestes, des reflets, des regards,’ paying attention, for example, to attitudes, sensations, changes in gravity, and spatial and temporal coordinates.” (Félix Guattari: Projet pour un film de Kafka. In: Ders.: Soixante-cinq rêves de Franz Kafka et d’autres textes, hg. von Stephane Nadaud, Paris 2007, S. 40–56, hier S. 43. Siehe auch Félix Guattari: Kino – eine kleine Kunst. In: Ders.: Die Couch des Armen. Die Kinotexte in der Diskussion, Berlin 2011, S. 147–152.
  • Source: Petra Löffler 2014: Der seltsame Fall des Bas Jan Ader, https://www.mediarep.org/bitstream/handle/doc/1543/AUGENBLICK_59_10-22_LOEFFLER_Bas_Jan_Ader_Los_Angeles.pdf?sequence=1&isAllowed=y
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Research in art history and art theory has so far dealt with crying rather marginally. We want to research and compile theoretical and historical key texts, significant terms and terminologies, suitable methods also from other disciplines and already existing artistic works/practices on this topic in art history and contemporary art.
And we want to set ourselves up with the development of workshops, mediation tools, manuals, services, coaching, maybe products in a way that we could become operational as an institute and crying experts. 
Because: “Sharpen your tears, it is going to be a long one.”* 

Mit dem “Crying” hat sich die kunsthistorische und kunsttheoretische Forschung bislang eher marginal beschäftigt. Wir wollen theoretische und historische Schlüsseltexte, signifikante Begriffe und Terminologien, taugliche Methoden auch anderer Disziplinen und bereits existierende künstlerische Arbeiten/Praktiken zu diesem Thema in der Kunstgeschichte und in der zeitgenössischen Kunst recherchieren und zusammentragen. 
Und wir wollen uns mit der Entwicklung von Workshops, Mediationstools, Manuals, Dienstleistungen, Coachings, vielleicht auch von Produkten so aufstellen, dass wir als Institut und Crying-Expert*innen einsatzfähig werden könnten. 
Denn: “Sharpen your tears, it is going to be a long one.”* 

* Nadja Kracunovic 2021: Voicing displeasure #2 The Professional Cry >>